Polenaustausch
Deutsch-polnischer Austausch mit historischem Profil am Otto-Hahn-Gymnasium
Am Freitag, den 19. April 2024, fuhr eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern nach Lublin in Polen und besuchte die Partnerschule XXX Liceum Ogólnokształcące – im. ks. Jana Twardowskiego.
Zu Beginn des Austausches trafen sich die Gruppen beider Schulen für zwei Tage in der Jugendbegegnungsstätte in Auschwitz, um vor Ort Geschichten von Häftlingen und Fragen weiter nachzuspüren, mit denen sich die Austauschteilnehmenden während des Besuches in Gedenkstätten und Erinnerungsorten in Deutschland auseinandergesetzt hatten.
An einem Tag besichtigte die Gruppe das sogenannte Stammlager Auschwitz I, am zweiten Tag das Lager Auschwitz II: Auschwitz-Birkenau. Vor Ort und während mehrerer Workshops konnten die Schülerinnen und Schüler die Wege und Schicksale einiger Personen nachverfolgen, die sie bereits während des Projektteils in Deutschland kennen gelernt hatten, so z.B. des polnischen Widerstandskämpfers Witold Pilecki, aber auch von Siegfried S., der aus dem KZ Moringen nach Auschwitz deportiert wurde. In einem Workshop, der den Besuch der historischen Orte und der Ausstellung vorbereiten sollte, ging es unter anderem um Fotos aus dem Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz als historische Quelle. Die Schüler und Schülerinnen beschäftigten sich in diesem Workshop mit verschiedenen Fotos aus Auschwitz. Ein wichtiges Fotodokument stellt das sogenannte Auschwitz Album bzw. Lilly Jacob Album dar.
Lilly Jacob war 18 Jahre alt, als sie 1944 gemeinsam mit ihren Eltern, Großeltern und Geschwistern aus Ungarn nach Auschwitz deportiert wurde. Auf der sogenannten „Rampe“ wurde sie von ihrer Familie getrennt. Lilly überlebte als einzige ihrer Familie, alle anderen Familienmitglieder wurden ermordet. Die Befreiung erlebte Lilly 1945 im Konzentrationslager Mittelbau-Dora. Dort fand sie in einer verlassenen SS-Kaserne ein Fotoalbum, das von Angehörigen der Lager-SS erstellt worden war, um die „Abläufe“ in Auschwitz festzuhalten. In diesem Fotoalbum entdeckte sie Fotos ihrer Familie. Sie nahm das Album an sich und behielt es, weil die darin enthaltenen Aufnahmen die einzigen waren, die ihr von ihrer Familie blieben. Später schenkte sie dieses Album der Shoah-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel.
Die intensive Auseinandersetzung mit der Geschichte des Konzentrations- und Vernichtungslagers in Auschwitz wurde von den Schülerinnen und Schülern auf dem Instagramkanal des Projektes wege_zur_erinnerung dokumentiert. Geschichtsinteressierte können dort Einblicke in die Erkenntnisprozesse der Gruppe bzw. zu den von der Gruppe besuchten Orten gewinnen. Der Besuch der Gedenkstätte in Auschwitz war für viele Schülerinnen und Schüler sehr bedeutsam. Viele Teilnehmer und Teilnehmerinnen waren sich einig, dass sie in dieser Woche mehr gelernt und aufgenommen haben, als es jemals im Geschichtsunterricht möglich gewesen wäre. Das „vor Ort sein“ habe viel bewirkt und das Interesse an den geschichtlichen Inhalten nachhaltig befördert.
Von Auschwitz ging es am Sonntag in die Heimatstadt der polnischen Austauschschüler und Austauschschülerinnen nach Lublin, wo die deutschen Austauschschülerinnen und -schüler von ihren polnischen Gastfamilien erwartet wurden. Nachdem am Montag zunächst die Schule besichtigt und gemeinsam in der Mensa Mittag gegessen wurde, begaben sich die Schülerinnen und Schüler in Lublin auf historische Spurensuche.
Vor dem zweiten Weltkrieg hatte Lublin ca. 120 000 Einwohner, wovon 43 000 Menschen jüdischen Glaubens waren. Jede dritte Person der Stadt Lublin gehörte also zur jüdischen Religionsgemeinschaft. Von diesem jüdischen Leben in Lublin ist durch die Ermordung der jüdischen Bevölkerung Europas durch die deutschen Besatzer während des Zweiten Weltkrieges kaum etwas übrig geblieben. Heute zählt die jüdische Gemeinde in Lublin gerade einmal 70 Menschen.
Am Dienstag lag der Fokus ganz auf der jüdischen Geschichte Lublins. Gemeinsam besuchte die Gruppe den Gedenk- und Erinnerungsort Teatr NN. Das Teatr NN hat sich zur Aufgabe gemacht, die Geschichte der Lubliner Juden und Jüdinnen zu bewahren. Für jeden der früheren 43 000 jüdischen Einwohner Lublins gibt es in diesem Museum und Dokumentationszentrum eine Aktenmappe, in der Informationen zu der jeweiligen Person gesammelt werden sollen. Nur die Hälfte der 43 000 Mappen hat bisher einen Eintrag. Meist handelt es sich lediglich um den Namen der Person. Fotos sowie weiterführende Dokumente gibt es heute nur noch von sehr wenigen Menschen, da die deutschen Besatzer nicht nur Akten vernichteten, sondern das gesamte damalige jüdische Viertel Lublins zerstörten. Im Teatr NN beschäftigte sich die Gruppe exemplarisch mit der Geschichte des in Lublin geborenen jüdischen Jungen Henio.
Im Gegensatz zu den meisten Menschen der jüdischen Gemeinde Lublins sind von Henio und seiner Familie Fotos aus der Zeit während des zweiten Weltkrieges überliefert, weil Henios Vater Fotos an seinen im Ausland lebenden Bruder schickte. In seinem letzten Brief schrieb Henios Vater im Sommer 1943 an seinen Bruder, er sei zusammen mit Henio in einem Lager in der Nähe von Majdanek. Was mit der Mutter und anderen Familiengehörigen passiert war, wird in diesem Brief nicht erwähnt. Lediglich auf den Großvater wird verwiesen, dass dieser nicht mehr lebe. Mit diesem Brief verliert sich die Spur von Henio und seinem Vater für immer. Anfang November 1943 wurden alle zu diesem Zeitpunkt noch lebenden Juden in der Region Lublin systematisch von den deutschen Besatzern ermordet.
Ein Ort, an dem die Menschen aus der Region ermordet wurden, war unter anderem das Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek. Auch dieser historische Ort wurde von der deutsch-polnischen Gruppe besucht. Gemeinsam erarbeiteten sich die Schülerinnen und Schüler anhand von Zeitzeugeninterviews, Gegenständen und Dokumenten aus dem Lager einen vertiefenden Einblick in die Haftbedingungen und die Geschichte dieses Konzentrations- und Vernichtungslagers.
Die Gruppe setzte sich außerdem mit verschiedenen Formen der Erinnerung in Lublin bzw. in Polen auseinander. In Lublin gibt es beispielsweise an einer Stelle des ehemaligen jüdischen Viertels ein „ewiges Licht“, eine Straßenlaterne, deren Licht in Erinnerung an die Ermordeten immer, auch tagsüber, leuchtet. Zudem kann man Wandmalereien an der Grenze des ehemaligen jüdischen Viertels finden, die nach dem Vorbild historischer Fotografien das jüdische Leben in Lublin vor dem zweiten Weltkrieg zeigen. Anders als Stolpersteine in Deutschland, die namentlich an eine Person erinnern, lassen sich in Lublin große Gehwegplatten finden, die jeweils für tausende Menschen stehen.
Viele der oben skizzierten Inhalte kann man auf dem bereits erwähnten Instagramkanal verfolgen, auf dem alle Teilnehmenden ihre Eindrücke, Erkenntnisse und Gefühle bei der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit festgehalten haben.
Neben den historischen Programminhalten kam der Spaß und die Begegnung natürlich nicht zu kurz. Es gab Sprach- und Integrationsspiele, gemeinsam wurde Zwiebelkuchen, eine jüdische Spezialität Lublins, gebacken und verzehrt. Zudem gab es einen Zirkusworkshop, in dem die Grundlagen des Jonglierens vermittelt wurden. Außerdem wurde gemeinsam getanzt, geshoppt, am See gepicknickt und vieles mehr.
Die Spurensuche der Jugendlichen in Deutschland und in Polen wurde vom Deutsch-Polnischen Jugendwerk gefördert.
O-Töne zum Austausch:
„Ich würde einen Austausch nach Polen empfehlen, da es kein gewöhnlicher Austausch ist. Man hat nicht nur die Möglichkeit, neue Menschen und Traditionen kennenzulernen, sondern gemeinsam außerhalb des Klassenzimmers etwas über unsere gemeinsame Geschichte zu lernen.“
„In dieser Woche habe ich mehr gelernt und aufgenommen als es jemals im Geschichtsunterricht mit 29 Mitschülern möglich wäre!“
„Man war an dem Ort, von dem man sonst immer nur im Unterricht hört oder im Fernsehen sieht. Man hatte die Möglichkeit Experten Fragen zu stellen, dadurch wurde so viel mehr Interesse an dem Thema geweckt, da es einem so sehr viel näher ging.“
„Der Austausch war eine Fahrt, welche mir definitiv geholfen hat, die Geschichte besser zu verstehen. Deshalb fand ich auch alle Workshops und die Besuche der ehemaligen Konzentrationslager sehr gut. Wenn man interessiert ist an der Geschichte und zusätzlich noch eine neues Land kennenlernen möchte, sollte man diesen Austausch unbedingt machen. Mir hat gut gefallen, dass wir trotz des vielen Programms auch Freizeit hatten, um die Stadt Lublin besser kennenzulernen, aber auch Zeit mit unseren Austauschpartnern zu verbringen. Das leckere polnische Essen und die super liebe Gastfamilie hat mir ebenfalls sehr gut gefallen.“
„Am Polenaustausch hat mir besonders gefallen, dass man neue Leute kennengelernt hat und so schnell neue Freundschaften entstehen konnten.“
„Mir persönlich hat auch die Besichtigung des KZ-Auschwitz gefallen. Auch wenn sich das erstmal doof anhört, war das eine beeindruckende Erfahrung.“
„Macht so viele Austausche, wie ihr nur könnt. Ihr werdet niemals so viel über ein Land und deren Menschen erfahren, wie ich bei diesem Polenaustausch – Danke!"
Das Deutsch-Polnische Jugendwerk (DPJW) ist eine Organisation, die jungen Menschen aus Deutschland und Polen Begegnungen und Zusammenarbeit ermöglicht. Es finanziert deutsch-polnische und trilaterale Austauschprojekte und unterstützt sie inhaltlich. Für Organisator/ -innen von Begegnungen bietet das Jugendwerk Fortbildungen, Konferenzen und Seminare und gibt Publikationen heraus. Das DPJW wurde 1991 als internationale Organisation von Regierungen Polens und Deutschlands gegründet, zeitgleich mit der Unterzeichnung des Vertrages über gute Nachbarschaft. Seither hat das DPJW mehr als 80.000 Austauschprojekte finanziert, an denen mehr als 3 Millionen junge Menschen teilnahmen.