Zeitzeugengespräche

Zeitzeugengespräche am 17. Juni

(su.) Der letzte Montag im Schuljahr steht für die 10. Klassen traditionell unter dem Thema "Begegnung mit einem Zeitzeugen zur DDR-Geschichte". Da solche Begegnungen im kleineren Rahmen gewinnbringender sind, teilte sich in diesem Schuljahr der 10. Jahrgang. Während vier Klassen im OHG blieben, fuhren die 10b (Frau Kakridi) und 10d (Herr Schulze) ins Grenzlandmuseum Eichsfeld.

Nach einer Einführung in den historischen Ort mit dem Besuch des Museums trafen wir die ehemalige DDR-Spitzensportlerin Gesine Tettenborn (Jahrgang 1962). Unter ihrem Mädchenamen "Walther" galt sie Anfang der 1980er Jahre als größtes Sprintnachwuchstalent der damaligen DDR. Eindrucksvoll erzählte sie von ihrem Werdegang, ihren ersten Erfahrungen bei großen internationalen Wettkämpfen (Olympia 1980) und den sportlichen Erfolgen (u.a. Halleneuropameisterin 1982 über 200m, Europameisterin 4x100-Meter-Staffel im gleichen Jahr und Staffelweltrekord über 4x400-Meter 1984).

Besonders in Erinnerung bleiben aber sicher die geschilderten Erlebnisse abseits dieser Erfolge: Die unerfüllte Liebe zu einem Schweizer Athleten, der gescheiterte Fluchtversuch ihres Bruders, woraufhin sie 1981 ins Visier der Staatssicherheit gelangte und das Zwangsdopingsystem des DDR-Spitzensports. Darüber zerbrach sie letztlich und leitete mit einer "geplanten Schwangerschaft" das Ende ihrer sportlichen Karriere ein, auch um ihrem Bruder den Häftlingsfreikauf zu ermöglichen. Bis heute leidet sie an körperlichen und psychischen Einschränkungen, welche vor allem auf das DDR-Staatsdoping zurückzuführen sind. Das Schreiben über ihre Erfahrungen und die Begegnung mit Jugendlichen helfen ihr seit Jahren, diese Erlebnisse zu verarbeiten. Dabei zeigte sie sich konsequent in ihrem Handeln. So ließ sie im Jahr 2010 auf eigenen Wunsch ihre Rekorde aus den Listen des Deutschen Leichtathletikverbandes löschen – schließlich wurden diese nicht "ehrlich" erlangt.

Wir danken Frau Tettenborn für ihre Zeit und den eindrucksvollen, offenen Austausch.

(sth.) Am gleichen Tag trafen die anderen 10. Klassen auf Manfred Casper, der im Theaterraum seine Geschichte eindrücklich und detailliert erzählte. Dabei wurde allen klar, wie schnell Bürger der damaligen DDR in die Fänge des Staates und der Staatssicherheit (Stasi) gelangen konnten.

Nach einem missglückten Fluchtversuch über die bulgarisch-jugoslawische Grenze folgten für den damals 18-Jährigen mehrere Jahre im Gefängnis, auch in der berüchtigten Tigerzelle, einer Isolationszelle im Keller. Auch nach seinem Freikauf durch die Bundesrepublik Deutschland ließ ihn der Staat der DDR nicht in Ruhe. So verfolgte ihn die Stasi noch mehrere Jahre, als er lange in der BRD lebte.

Berührend erzählte Manfred Casper auch seinen über mehrere Jahre währenden Widerwillen, sihc mit seiner Vergangenheit zu beschäftigen. Erst viel später war er dann - auch auf Drängen seiner Kinder - bereit, sich mit seinen Akten zu beschäftigen.

Auf 700 Seiten hatte die Stasi Wesentliche und Unwesentliches über ihn gesammelt. Schockierend war für ihn - wie für viele andere - die Erkenntnis, wieviele Menschen in seinem Umfeld IMs (s.u.) waren.

Wir bedanken uns bei Herrn Casper für die intensive Erzählung, die uns die Willkür des Staates wirklich anschaulich gemacht hat!

Seine bewegte und bewegende Geschichte hat Manfred Casper in seiner Autobiografie "Vom Wachsen der Flügel" aufgeschrieben. Das findet ihr auch in unserer Bibliothek. https://vomwachsenderfluegel.de

 

IMs wurden die informellen Mitarbeiter und natürlich Mitarbeiterinnen der Stasi genannt. Das waren Privatleute, die ihre Arbeitskollegen, Nachbarn, Familien und Freunde ausspionierten und der Stasi darüber berichteten.

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